Montag, 6. Februar 2012

Kardinal Marx und der Zivilisationsbruch

Seit Donnerstag geht mir das Interview im Kopf herum, das Kardinal Marx der ZEIT gegeben hat. Genauer gesagt, ist es eine kurze Sentenz, der mir wieder und wieder aufstößt:
Ich halte nichts vom Begriff der »guten alten Zeit«, das ist eine Erfindung der Nachgeborenen. Was mich zum Beispiel bedrückt: In einem Land, wo wahrscheinlich die Kenntnis der Zehn Gebote intensiver war als heute, wo die Ehen stabiler waren, wo der Kirchenbesuch erheblich über unserem heutigen lag, ist der größte Zivilisationsbruch aller Zeiten passiert.
Man kann das ganz harmlos finden, vielleicht sogar "nachdenklich". Mir will aber nicht einleuchten, warum ein deutscher Kardinal in diesem Zusammenhang die antifaschistische Keule schwingen muss und einen negativen Zusammenhang zwischen "höherem Kirchenbesuch" und dem "größten Zivilisationsbruch aller Zeiten" herstellt. DAS (und nicht jede Rede von der "guten alten Zeit") ist grob unhistorisch. Es waren nicht die regelmässigen Kirchgänger und schon gar nicht die katholischen, die Herrn Hitler und seine Partei gewählt haben (zur Erinnerung: die NSDAP hat in den freien Wahlen der Weimarer Republik nie mehr als 20% der Katholiken für sich gewinnen können). Und was soll die Herstellung des Zusammenhang überhaupt bedeuten? Dass die Nichtkenntnis der Zehn Gebote, die Lebensabschnittsgemeinschaft und die Abstinenz vom Kirchgang mehr Zivilisation hervorbringen?

Und weiter: stünde es kirchlichen Würdenträgern nicht gut an, in Interviews dieser Art einmal die Zivilisationsbrüche unserer Tage zumindest beim Namen zu nennen? Zum Beispiel die Tatsache, dass Jahr für Jahr ca. 150.000 Kinder das Licht der Welt nicht erblicken dürfen. Oder - wenn wir schon beim historischen Vergleich sind - das Faktum, dass Menschen mit Down-Syndrom heute mit höherer Effizienz getötet werden als zu Zeiten des staatlich verordneten Euthanasie-Programms?

Ein letztes: Der Kardinal beklagt die Neigung zur Schwarz-Weiß-Argumentation und analysiert in diesem Zusammenhang auch die Haltung "radikaler katholischer Internetseiten" mit dem Satz "Man will klare Verhältnisse, so unklar die Lage oft auch ist". Einige Zeilen vorher sagt er über den Weltbild-Ausstieg:
Aber müssen Bischöfe selbst erwerbswirtschaftlich tätig sein? Das, meine ich, muss nicht sein.
Jahre-, wenn nicht jahrzehntelang haben die Bischöfe in dieser Frage nach dem Motto "die Lage ist nicht so klar" gehandelt. Es waren nicht zuletzt die bösen "katholischen Internetseiten", die nun einen Sinneswandel erzwungen haben.

Fremdschämen bezüglich der "guten alten Zeit" und Schönreden bei den eigenen Fehlern - mir gefällt diese Kombination nicht besonders gut ...



1 Kommentar:

  1. Das ist wirklich ahistorisch. "Hitlers Wähler" von Falter dürfte da helfen. Erzbischof Marx ist sicher einer der profiliertesten Sozialpolitiker in Deutschland.

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