Die gängige Mär geht in etwa so: Rom hat den Erzbischof hingehalten und auf sein Ableben spekuliert, um die Piusbruderschaft, die dann ja keinen Bischof mehr für Priesterweihen gehabt hätte, "verhungern" zu lassen.
Die Fakten sind folgende:
- Im November-Dezember 1987 hatte Kardinal Gagnon eine apostolische Visitation der Bruderschaft vorgenommen und dabei von Erzbischof Lefebvre das Signal bekommen, dass die FSSPX bereit sei, sich dem Papst zur Verfügung zu stellen.
- Am 8. April 1988 schrieb Papst Johannes Paul II. einen Brief an den Präfekten der Glaubenskongregation, Josef Kardinal Ratzinger, in dem er diesem den Auftrag erteilte, alles Mögliche zu tun, um zu einer Lösung zu kommen, die es der Bruderschaft erlauben würde, einen rechtmäßigen Platz in der Kirche einzunehmen in voller Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl.
- Zwischen dem 12. und dem 15. April 1988 kam es zu Konsultationen zwischen der Glaubenskongregation und der FSSPX, in deren Rahmen dogmatische und kanonistische Fragen erörtert wurden.
- Diese Konsultationen verliefen so erfolgversprechend, dass am 4. und 5. Mai 1988 weitere Gespräche in Anwesenheit von Erzbischof Lefebvre und Kardinal Ratzinger stattfanden, an deren Ende von beiden Seiten ein Protokoll unterzeichnet wurde. Dieses Protokoll sollte die Grundlage der Versöhnung sein und im nächsten Schritt von Papst Johannes Paul II. offiziell genehmigt werden.
- Die dogmatischen Inhalte der Vereinbarung waren im wesentlichen: 1. Die FSSPX drückt ihre Treue gegenüber der Kirche und dem Papst aus; 2. Bejahung von Lumen Gentium 25 (Lehre des 2. Vaticanums über den Papst); 3. Verzicht auf Polemik und Haltung des Studiums und der Kommunikation mit dem Hl. Stuhl in den von der FSSPX beanstandeten Lehren des Konzils; 4. Anerkennung der Gültigkeit der "Neuen Messe"; 5. Anerkennung der kirchlichen Disziplin und des CIC 1983
- Die kanonistischen Inhalte: 1. Die FSSPX erhält den Status einer Gesellschaft des Apostolischen Lebens päpstlichen Rechtes mit weitgehender Exemtion (Unabhängigkeit vom Ortsbischof) bezüglich des öffentlichen Kultes, der Seelsorge und der apostolischen Tätigkeit; 2. Generelle Erlaubnis der alten Bücher für die Bruderschaft; 3. Einsetzung einer römischen Kommission für die Koordination der Zusammenarbeit mit den Bischöfen mit mindestens zwei Mitglieder aus der FSSPX; 4. Ernennung eines Bischofs aus den Reihen der FSSPX.
- In den Tagen nach der Unterzeichnung des Protokolls und zurückgekehrt nach Econe reichte Lefebvre Forderungen nach: nicht ein, sondern mehrere Bischöfe; Mehrheit in der römischen Kommission, etc.
- Um dem Argument, Rom spiele auf Zeit den Wind aus den Segeln zu nehmen, bot Kardinal Ratzinger die Weihe eines Bischofs bereits für den 15. August an.
- Am 2. Juni 1988 kündigte Erzbischof Lefebvre in einem Schreiben an den Hl. Vater die Vereinbarung vom 5. Mai auf und die eigenmächtige Weihe von Bischöfen an.
- Am 9. Juni bat Papst Johannes Paul II. Erzbischof Lefebvre in einem Schreiben eindringlich, den eingeschlagenen Weg nicht zu Ende zu gehen, da die angekündigten Weihen "sich nur als ein schismatischer Akt erweisen" könnten. Er weist gleichzeitig auf die kirchenrechtlichen Folgen hin.
- Am 30. Juni erfolgten die Bischofsweihen und unmittelbar im Anschluss die Exkommunikation aller beteiligten Bischöfe (Lefebvre, Castro Mayer und die vier Neugeweihten) sowie die Ermahnung an die Gläubigen, dem "schismatischen Akt des Herrn Lefebvre" nicht zuzustimmen, um sich nicht dasselbe Strafe zuzuziehen.
Diese Geschichte ist nicht irgendeine Sicht auf die Dinge, sondern lässt sich aufgrund der zur Verfügung stehenden Dokumente für jeden leicht nachvollziehen (man nehme z.B. das Büchlein "Das Ärgernis Lefebvre" von Alois Schifferle und lese dort, wenn man der Darstellung des Autors nicht traut, nur den Dokumenten-Anhang).
Die Einordnung der ganzen Angelegenheit werde ich in einem weiteren Beitrag versuchen - an dieser Stelle sei noch auf zwei Passagen aus Dokumenten hingewiesen, die für das Selbstverständnis der Bruderschaft wesentlich sind.
Im Brief von EB Lefebvre an Papst Johannes Paul II. findet sich folgende Passage:
"Da man es ablehnt, unsere Gesuche in Erwägung zu ziehen, und da es offenkundig ist, daß das Ziel dieser Versöhnung keineswegs dasselbe ist für den Hl. Stuhl wie für uns, halten wir es für ratsamer, günstigere Zeiten für die Rückkehr Roms zur Tradition abzuwarten.
Deshalb werden wir uns selbst die Mittel geben, um das Werk fortzuführen, das die Vorsehung uns anvertraut hat".
Die Wieder-Eingliederung der Bruderschaft in die Kirche war für EB Lefebvre also "die Rückkehr Roms zur Tradition". Anders ausgerückt: die Wieder-Eingliedung der Kirche von Rom in die Bruderschaft. Es liegt auf der Hand, dass die Bruderschaft sich als die eigentliche, wahre "Hüterin der katholischen Tradition" (und was wäre das anderes als die Kirche selbst?) sieht. Nur wenn das so ist, kann es auch gerechtfertigt sein, sich in einem Akt der Selbstermächtigung die Mittel zum eigenen Fortbestand zu geben; denn dieser Fortbestand (nicht die apostolische Ordnung der römischen Kirche) ist es, was die Vorsehung will.
Noch deutlicher ist der offene Brief, den Pater Schmidberger (zu dieser Zeit Generaloberer der Bruderschaft) am 6. Juli 1988 im Namen der gesamten Bruderschaft (!) an Kardinal Gantin, den Präfekten der Kongregation für die Bischöfe schickte:
"Mit Ihrem Schreiben vom vergangenen 1.7. glaubten Sie Seiner Exzellenz Mgr. Marcel Lefebvre, Seiner Eminenz Mgr. Antonio die Castro Mayer und den vier Bischöfen, die am 30. Juni in Econe geweiht wurden, ihre Exkommunikation "latae sententiae" mitteilen zu müssen. Beurteilen Sie selbst den Wert einer solchen Deklaration, die von einer Autorität kommt, die in ihrer Ausübung bricht mit allen ihren Vorgängern bis zum Papst Pius XII., im Kult, in der Lehre und in der Kirchenleitung. [...] Wir verlangen nichts weiter, als daß wir von jenem ehebrecherischen Geist exkommuniziert sind, der seit 25 Jahren in der Kirche vorherrscht, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Gottlosen. [...] Offiziell betroffen von der Strafmaßnahme, welche die sechs katholischen Bischöfe, Verteidiger des Glaubens in ihrer Integrität und Vollständigkeit trifft, wird dies für uns ein Zeichen der Orthodoxie vor den Gläubigen. Diese haben wirklich ein striktes Recht darauf zu wissen, daß die Priester, an die sie sich wenden, nicht einer betrügerischen, evolutiven, pfingstlerischen und synkretischen Kirchengemeinschaft angehören".
Wir halten fest:
- Die Bruderschaft sagt von der römischen Kirche, dass sie mit der Lehre der Kirche bis Pius XII. gebrochen hat. Das bedeutet, dass diese Kirche und vor allem die Autorität in ihr, also der Papst, häretisch ist.
- Sie begrüßt die Exkommunikation aus dieser "Gemeinschaft der Gottlosen"; wohlgemerkt: das ist die Bezeichnung für die römische Kirche unter Papst Johannes Paul II.
- Die gesamte Bruderschaft weiß, dass die von dieser Strafmaßnahme mit betroffen ist (und sie ist natürlich stolz darauf). Wie wollte man auch nach den Weihen in der Bruderschaft bleiben, ohne diese Weihen und damit den schismatischen Akt zu billigen?
- Die römische Kirche wird (neben den bösartigen Adjektiven) als "Kirchengemeinschaft" bezeichnet - ihr wird also das Kirche-sein im Vollsinn abgesprochen.
Aus diesen Zitaten wird glasklar ersichtlich, dass die Bruderschaft überzeugt ist, dass der Papst nicht der Papst ist, denn das ist er nicht, wenn er häretisch ist ("mit der Lehre seiner Vorgänger gebrochen hat"). Und die Kirche ist nicht die Kirche, sondern eine "Gemeinschaft der Gottlosen". Die Bruderschaft zur Zeit der Weihen ist also eindeutig und ohne jeden begründbaren Zweifel materialiter sedisvakantistisch. Hierzu passt übrigens auch die Tatsache, dass man die Reihe der rechtgläubigen Päpste mit Pius XII. enden lässt (wie das in sedisvakantistischen Kreisen üblich ist).
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