Donnerstag, 23. August 2012

Pussy Riot - so einfach ist das nicht!

Die Blogoezese hat sich mit dem "Pussy Riot"-Prozess eher am Rande beschäftigt und sich dabei vielfach auf die Sekundärphänomene (z.B. im Kölner Dom) beschränkt. Lediglich Elsa hat sich mit einem sehr irritierenden Bildbeitrag (oder ist mir die Pointe entgangen?) klar positioniert und sich dabei offensichtlich von einem nicht besonders geschmackvoll titulierten Beitrag des Kollegen Kissler inspirieren lassen.

Ganz allgemein scheint eine Tendenz vorhanden zu sein, die Performance in der Erlöser-Kirche für eine religions-feindliche Aktion zu halten, deren Bestrafung für gerechtfertigt und lediglich das Strafmaß für (etwas) übertrieben. Man liegt wohl nicht ganz falsch, wenn man den zugrundeliegenden Gedankengang folgendermaßen skizziert: "Bei uns kommen die ganzen als Künstler getarnten Gotteslästerer ja immer ungeschoren davon - in Russland kriegen sie wenigstens eins auf die Mütze". Ganz selbstverständlich wird die ganze Angelegenheit auf jeden Fall in die aktuelle Blasphemie-Diskussion eingebaut und in diesem Kontext bewertet.

Mir scheint diese Deutung grundsätzlich in die Irre zu gehen. Liest man die Schlusserklärungen der drei Angeklagten im Prozess (hier, hier und hier), treten ganz andere Deutungslinien hervor. Der Protest von "Pussy Riot" entzündet sich an der zynischen Inanspruchnahme der religiösen Ästhetik der Orthodoxie für seine politischen Zwecke. So erklärt Katja Samutsevich:
Our sudden musical appearance in the Cathedral of Christ the Savior with the song “Mother of God, Drive Putin Out” violated the integrity of this media image, generated and maintained by the authorities for so long, and revealed its falsity. In our performance we dared, without the Patriarch’s blessing, to combine the visual image of Orthodox culture and protest culture, suggesting to smart people that Orthodox culture belongs not only to the Russian Orthodox Church, the Patriarch and Putin, that it might also take the side of civic rebellion and protest in Russia.
[Unser überraschender musikalischer Auftritt in der Kathedrale Christi des Erlösers mit dem Lied "Mutter Gottes, vertreibe Putin" beschädigte die Integrität dieses medial vermittelten Bildes, das die Autoritäten so lange erzeugt und aufrecht erhalten hatten, und offenbarte seine Falschheit. In unserer Performance wagten wir - ohne den Segen des Patriarchen - die orthodoxe Kultur und die Kultur des Protestes visuell zu verbinden, um aufmerksamen Menschen zu vermitteln, dass die orthodoxe Kultur nicht nur der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und Putin gehört; dass sie ihm Gegenteil auf der Seite des zivilen Ungehorsams und des Protestes in Russland stehen könnte]
Der Kern des "Pussy Riot"-Prozesses besteht nicht in der Lästerung Gottes, sondern in der Inanspruchnahme der religiösen Tradition des Landes gegen das Putin-Regime. Sehr deutlich wird das in der vielzitierten Beschimpfung des Patriarchen im "Protest-Gebet":
Der Patriarch Gundjaj glaubt an Putin
Besser würde der Hund an Gott glauben
Der Gürtel der Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen
Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns!
So ist die Performance in der Erlöserkirche vor allem eine Anfrage an die Russisch-Orthodoxe Kirche, ihr Verhältnis zum herrschenden politischen System zu überprüfen. Liest man die Erklärung des Obersten Kirchenrates der Russisch-Orthodoxen Kirche zum Prozess, muss man annehmen, dass diese Anfrage bisher geflissentlich übersehen wird. Gleichzeitig offenbart diese Erklärung, wie tief die Identifikation von Religion und Nation im Denken der Kirche verwurzelt ist:
Unser Volk ist durch die Prüfungen der militanten Gottlosigkeit und der faschistischen Aggression gegangen. Das war uns eine tragische Lehre, die eine besondere Sensibilität gegenüber der Schmähung religiöser und nationaler Gefühle in uns herangebildet hat.
Wer religiöse und nationale Gefühle so eng zusammenrückt, wird immer in der Versuchung stehen, die mit dem Christentum grundsätzlich gegebene kritische Distanz zum Staat aufzugeben und zum Opfer politischer Instrumentalisierungen zu werden.

Für die auch in Deutschland virulente Blasphemie-Debatte kann der Fall "Pussy Riot" ein wichtiger Hinweis sein, den "Schutz des Staates" nicht allzu leichtfertig einzufordern. Zurecht erinnert eine der Angeklagten in ihrem Statement an die düstere Seite der Geschichte des Blasphemie-Begriffs und seiner Anwendung. Ihm ist nicht nur Sokrates zum Opfer gefallen, sondern auch unser Herr selbst und sein erster Blutzeuge Stephanus ...

11 Kommentare:

  1. Sehe ich durchaus nicht so. Zum einen hab ich die Reaktion der katholischen Blogger als sehr viel differenzierter wahrgenommen, zum anderen darf man es bei dem vortragenen Text nicht bei Euphemismen wie "Performance" oder "Punk-Gebet" belassen.

    Jedem, der sich eine Meinung bilden möchte, sei zugeraten, sich, auch wenn es schmerzt, einmal durchzulesen, was da überhaupt zu Gehör gebracht wurde. Wer Sentenzen wie "göttlicher Dreck" vor der Ikonostase skandiert, hat natürlich die Absicht, Gefühle zu verletzen und genau das ist ja auch geschehen. Surprise!

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    1. Ich kann und möchte nicht den Anspruch erheben, ein vollständiges Bild der Blogoeszese zu haben. Das ist aber wohl auch nicht der entscheidende Punkt.

      Ich habe mir den Text jetzt noch mehrmals in verschiedenen Übersetzungen durchgelesen (z.B. hier: http://freepussyriot.org/node/250) und komme immer zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Kritik an der Pro-Putin-Politik des Patriarchen und seiner Kirche handelt.

      Auch den Passus "Göttlicher Dreck" würde ich - aufgrund des Kontextes - hierauf beziehen, nicht aber auf die christliche Religion im Allgemeinen oder die Ikonostase im Speziellen.

      Von daher würde ich bei meiner Terminologie "Performance" zur Charakterisierung des Aktion bleiben - das schließt ja keineswegs aus, dass man die durch den Ort der Performance gegebene Provokation für eine (nicht-hinnehmbare) Grenzüberschreitung hält.

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  2. Ich stimme hier Braut des Lammes voll und ganz zu.

    1. Was die Reaktionen angeht, v.a. was den Kissler-Artikel angeht. Kissler kritisiert sehr wohl das Putin-Regime und auch das Strafmaß ist dabei keine Marginalie. Kisslers Schwerpunkt liegt anders, was aber daran liegt, daß er auf das im allgemeinen Diskurs übersehene beleuchten will. (Und was an einer beinahe wörtlichen Übersetzung des Bandnames "nicht geschmackvoll" sein soll, bleibt mir schleierhaft.)

    2. Man mag die Motive der Kirchenstürmerinnen aufdröseln wie man will - sicher ging es zuerst darum, gegen Putin zu demonstrieren, zweitens aber auch darum, gegen die russisch-orthodoxe Kirche zu protestieren. Der Vorwurf lautet Paktieren mit der Macht bzw. deren Benutzen religiöser Symbolik. Der Vorwurf ist aber Heuchelei, wenn PR nun selbst die Gottesgebährerin für sich beanspruchen. Das sich eine christliche Kirche auf die eine wie die andere Seite stellen könnte, gebt den PR dennoch nicht das recht, diese Entscheidung zu übernehmen. (Und der Apostel Paulus dürfte wohl dem Patriarchen Kyril rechtgeben.)

    Drittens aber zog man dabei aber auch die Namen des Allmächtigen und der Gottesgebährerin in den Dreck. Da hilft es nicht, wenn man nur "Vertreibe Putin" zitiert und nicht auch "Gottessch..." und dergleichen.

    3. Sind die Motive völlig irrelevant, wenn man die Tat - das Stürmen nicht nur eines Gotteshauses sondern auch des Altarraums - was ja bei den Ostkirchen besonders streng gehandhabt wird - und der Missbrauch desselben zu einem politisch-krawalligem Happening.

    4. Mögen PR so religionsfeindlich oder -freundlich sein, wie sie wollen (und ich sehe keinen Anhaltspunkt, daß sie dem christlichen Glauben positiv verbunden wären) - das PR im Westen so bejubelt wird geht ursächlich auf zwei Dinge zurück: erstens die allgemeine Protestseligkeit, die in (fast) jedem Demonstranten schon "das Gute" sehen, und zweitens eben die - in letzter Konsequenz eben doch religionsfeindliche - Anschauung, das Religion doch nicht ernstzunehmend und daher vernachlässigenswert sei. Es ist genau die gleiche Geisteshaltung, die an anderer Stelle zu Benschneidungs"verboten" (Anführungszeichen, weil es in Deutschland nur ein Gerichtsurteil, nicht aber dahingehendes Recht gibt) führt.

    PS. Und in der Sache PR geht es weniger um Blasphemie sondern v.a. um Sakrileg. Ersteres müssen wir in einer modernen, einigermaßen freiheitlichen Gesellschaft (und auch in Rußland) wohl aushalten, letzteres nicht.

    2.

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  4. Wie gesagt, es geht nicht um Blasphemie. Und das Gerede von "religiösen Gefühlen" ist ohnehin abzulehnen. Aber auch folgendes stimmt so nicht:

    "Geschichte des Blasphemie-Begriffs und seiner Anwendung. Ihm ist nicht nur Sokrates zum Opfer gefallen"

    Sokrates wurde nicht wegen Blasphemie angeklagt und verurteilt sondern wegen "Gottlosigkeit und Verführung der Jugend"

    Auch der Fall Jesu ist so einfach nicht. Gotteslästerung war nur ein Punkt, der unter Juden, aber nicht im eigentlichen Prozess eine Rolle spielte.

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    1. Ich versuche es einmal der Reihe nach:

      1. Auf den Kissler-Artikel war ich nur am Rande eingegangen (Elsa zitiert ihn) und hatte mich über die Überschrift gewundert, der ja gezielt eine der möglichen Übersetzungen herausgreift und daher auf derselben Welle schwimmt (Aufmerksamkeit durch Tabu-Bruch)

      2. Für die Wertung der Aktion sind die Motive schon relevant. PRotest gegen Putin und Protest gegen eine als "Handlanger" empfundene Kirche ist etwas anderes als Beschimpfung und Herabwürdigung der Religion. Sowohl der Text als auch die ausführlichen Einlassungen der Beklagten im Prozess scheinen mir letzteres auszuschließen.

      3. Über die objektiven Tatbestände besteht wohl Konsens.

      4. Über das Thema Blasphemie, Sakrileg, etc. müssten wir etwas ausführlicher sprechen.

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    2. "PRotest gegen Putin und Protest gegen eine als "Handlanger" empfundene Kirche ist etwas anderes als Beschimpfung und Herabwürdigung der Religion."

      Stimmt zwar, aber warum hier einen Widerspruch aufbauen, wenn die Aktion doch offenbar beides ist.

      Ein wenig Hintergundinformation zu den Frauen findet man in folgendem Artikel in der FAZ:

      http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pussy-riot-lady-suppenhuhn-11867761.html

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  5. Zu 2. Der Dissens besteht doch aber gerade darin, daß der angebliche Protest nach überwiegender Ansicht, auch der des Gerichts, die Kriterien der Beschimpfung und Herabwürdigung der Religion und der versammelten Gläubigen erfüllt hat und daher mitnichten "etwas anderes" ist.

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    1. Nun ja, da stellt sich schon die Frage nach der Deutungshoheit. Ich persönlich habe große Schwierigkeiten, mir in dieser Angelegenheit die Welt von einer Richterin abschließend erklären zu lassen, von deren politischen Unabhängigkeit man wohl nicht ausgehen kann.

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  6. Nur eine kleine Anmerkung zum "Vaginalen Aufruhr"-Titel von Kissler. A) Bedeutet Pussy Riot ins Deutsche übersetzt nichts anderes, auch wenn es nicht ganz so niedlich klingt und B)
    ist es ja auch in der Sache nicht gar so verfehlt:-)
    http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/pussy-riot-lady-suppenhuhn-11867761.html

    PS: Pointen erkläre ich grundsätzlich nicht, sie gehen sonst verloren:-)

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    1. Liebe Elsa, der Ausdruck "Pussy" ist im Englischen mehrdeutig, erst durch die Übersetzung wird er eindimensional. Durch die Übertragung entlang der Anatomie wird die Sache dann einfach nur platt ...

      Den Beitrag von Hr. Gathmann halte ich für nicht wirklich hilfreich. Dass die Methode der Aktivistinnen von "Pussy Riot" und "Voijna" nicht in der Propagierung allgemein anerkannter sexualmoralischer Standards besteht, haben wir schon verstanden. Bezüglich der religiös-kirchlichen Komponente der ganzen Angelegenheit scheint er mir ahnungslos zu sein.

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